(22.11.2009, 20:36)piccohunter schrieb: [ -> ]Nach meiner Definition müsste eigentlich eine linear spielende Box zwangsläufig neutral sein.
Neutral bedeutet, dass das Audiosignal bei der Umsetzung von elektrisch auf akustisch nicht verändert wird. Da ist der Frequenzgang nur ein Aspekt, und eigentlich nicht mal der Wichtigste.
Angenommen, man sitzt im Konzert. Ob erste Reihe oder Mitte, ob am Rand, hinter eine Säule oder wo immer hat messtechnisch einen sehr grossen Einfluss auf den Frequenzgang. Auch alle Reflexionen bilden Überhöhungen und Auslöschungen. Und trotzdem fällt uns das beim Erleben des Konzerts kaum auf. Der Grund ist, dass wir zur Beurteilung des Klangs die erste Wellenfront nutzen, wenn sie nicht deutlich schwächer ist als alles, was darauf folgt. Somit ist Hall und Reflexion kein "Thema", weil dies alles verspätet eintrifft. Hall und Reflexionen geben uns den unverwechselbaren Klangeindruck des Raums, aber nicht der Musik. Der Raum kann also angenehm oder schlecht klingen, aber das hat nur ganz geringen Einfluss auf unser Empfinden der Musik gegnüber. Das bedeutet, dass Frequenzgang-Unebenheiten, vor allem schmale Spitzen, weit weniger ins Klangbild eingreifen, als wir das annehmen. Jeder Reflexion im Raum führt zu ähnlichen Resonanzspitzen und da sich diese nicht vermeiden lassen (Reflexionen von Bäumen im Urwald der Neandertaler) haben wir uns daran gewöhnt.
Das bedeutet, dass das Einschwingverhalten eine weit entscheidendere Rolle spielt als diese Resonanzen. Kommt hinzu, dass Resonanzen sich immer langsam aufbauen, je steiler, je langsamer. Würde man z.B. einen Klavieranschlag künstlich dehnen, so würden wir bei der Lautsprecherwiedergabe wieder einen zusätzlichen "Anschlag" feststellen, obwohl es diesen nicht mehr gibt. Dies, weil die Resonanzen beim "Anschlagen" des Lautsprechers noch nicht vorhanden sind, sondern sich erst nach und nach bilden.
Der Lautsprecher verfälscht also den Einschwingvorgang und damit den Klang. Ein linearer Lautsprecher, der diese Linearität ohne elektronische Tricks erreicht (Sperrkreise bei Breitbändern) hat sicher von Haus aus weniger Probleme. Wirklich problemfrei ist aber auch er nicht.
Ein weiteres Kapitel sind Verzerrungen. Das muss nicht nur Klirr und Intermodulation sein, das kann sich auch um Verzerrungen der Kurvenformen handeln als Folge unterschiedlicher Phasendrehungen. Hier ist gesichert, dass sehr komplexe Formen wie etwas der Klang eines grossen Orchesters vom Ohr nicht mehr aufgelöst werden und daher Phasenfehler innerhalb des Frequenzgangs (und damit Impulsverformungen) nicht auffallen. Bei Einzelinstrumenten kann es aber vorkommen, dass solche Veränderungen der Impulsform sehr wohl festgestellt werden.
Nun ist bekannt (und nachvollziehbar), dass die Membranposition (nicht der Schalldruck!) im eingeschwungenen Zustand (nach einigen Sinuszyklen) 180 Grad phasengedreht reagiert gegenüber der antreibenden Kraft (oberhalb der Eigenresonanz). Beim ersten Anlegen des Signals aber kann die Membrane nicht verkehrt schwingen. Das ergibt selbst bei einem klirrfreien Sinussignal zu Beginn eine Signalveränderung mit einer Frequenzverschiebung. Dieser Vorgang ist recht kurz und wäre nur beim Einschalten eines Sinus festzustellen. Und solange ein beliebiges Signal schon wiedergegeben wird, sind diese Fehler nicht oder kaum zusätzlich vorhanden.
Zusammenfassend muss man sagen, dass der Frequenzgang eine recht untergeordnete Rolle für das Hörempfinden hat. Weit wichtiger sind die Verhältnisse beim Einschwingen, was ja bei Lautsprechern kaum untersucht wird. Das Wasserfalldiagramm bezieht sich dummerweise nicht aufs Ein- sondern aufs Ausschwingen. Hat ein Lautsprecher Resonanzen, die sich im Frequenzgang äussern oder Ausschwingprobleme, so hat er meist auch Einschwingfehler. Aber wie stark die letztlich sind, ist aus den vorhandenen Messungen nicht wirklich abzuleiten.
Und neben den Einschwingproblemen zählen wie gesagt Phasenfehler über die Zeit und alle anderen Arten von Verzerrungen. Und dies sind sehr oft "flüchtige" Effekte, vergleichbar mit TIM, welche a) nicht gemessen werden und b) oft nicht mal den Lautsprecherherstellern bekannt sind. Daher können zwei "identische" Boxen mit vergleichbaren Chassis mit identischen heute verwendeten Messergebnissen unterschiedlich klingen.
Es wäre möglich, nahezu ideale Lautsprecher zu bauen. Nur sind dazu weitere Untersuchungen nötig. Und kein bisheriger Hersteller hat daran ein Interesse. Man müsste den Weg des dynamischen Lautsprechers verlassen, es müssten die Gehäuse verschwinden und es kämen neue Probleme auf uns zu. Ich kann mir noch nicht wirklich vorstellen wie es sein müsste, mit irgendwelchen Gebilden zu wohnen, die schlimmer aussähen als eine Ölraffinerie im Wohnzimmer. Und dies bei 7.1 Surround